Anke Stelling hat den Preis der Leipziger Buchmesse verdient gewonnen. Ihr Roman „Schäfchen im Trockenen“ ist Ermächtigungsrede und Angstschrift gegen den Abstieg.
Eine Rezension von Carolin Ströbele
Wie mag sich das wohl anfühlen, wenn man seiner Romanfigur einen Literaturpreis verleiht und diesen Preis dann selbst bekommt? Anke Stelling wird diese Frage in den nächsten Stunden und Tagen häufig beantworten müssen. In ihrem Roman Schäfchen im Trockenen bekommt die enttäuschte, wütende, von Existenzangst geplagte Erzählerin Resi einen Literaturpreis in Höhe von 15.000 Euro. Genauso hoch ist der Leipziger Buchpreis dotiert, den Stelling nun absolut verdient erhalten hat.
Man könnte das als Hybris auslegen oder als geplante Provokation. Doch Stellings Biografie legt nahe, dass die Idee einem langen Kampf, einem mühevollen Ringen um Sprache, um Selbstermächtigung geschuldet ist. Einem Anschreiben gegen Sätze wie „Lass es gut sein!“ Mit diesem Satz habe ihre eigene Mutter, hätten viele Mütter die Gespräche mit ihren Töchtern beendet, schreibt die Romanfigur Resi. Sie schreibt das nicht für sich, sondern für ihre älteste Tochter Bea, die sie abhärten will für ein Leben in einer ungerechten Welt, in der es sehr wohl darauf ankommt, aus welchem Milieu man stammt und wie viel Geld man hat.
Stelling bezeichnet ihr Buch als Aufklärungsroman. Das trifft in mehrfacher Hinsicht zu: Es ist der Monolog einer Frau, Mitte 40, gerichtet an ein 14-jähriges Mädchen. Es ist eine Angstschrift über das Herausfallen aus der Gesellschaft. Und nicht zuletzt die Wutrede einer Künstlerin, die es nicht hinnehmen will, mundtot gemacht zu werden. Weil sie unbequem ist, weil sie es wagt, aus ihrer unterprivilegierten Stellung heraus (prekäre Verhältnisse, vier Kinder) das Leben ihrer wohlhabenden Clique zu sezieren.
Der Name Resi sei eine Ableitung des griechischen Wortes parrhesia, der Redefreiheit, hat Anke Stelling in Interviews erklärt. Das wirkt auf den ersten Blick etwas pathetisch. Doch der Begriff der Parrhesie und seine philosophische Auslegung finden ihre Entsprechung in der Erzählhaltung des Romans. Die Freiheit, über alles zu sprechen, wird nämlich nur dann als Parrhesie geachtet, wenn der oder die Kritisierende etwas zu verlieren hat. Und im sozialen Gefälle unter den Kritisierten steht.
Anke Stellings Resi tut das. Sie hat das Baugruppenprojekt ihres schwäbischen Freundeskreises in Prenzlauer Berg erst in einem Artikel, dann in einem Buch beschrieben. Und sie bekommt die Rechnung dafür. Ihre beste Freundin Vera schreibt ihr einen Abschiedsbrief, wie ihn nur Frauen schreiben können: Ich liebe Dich, aber halte Dich von mir und meinen Kindern fern. Veras Ehemann, in dessen Wohnung Resi mit ihrer Familie lebt, ist da eindeutiger. Er schickt die Kündigung für den Mietvertrag. Wer in der finanziellen Hierarchie unten steht, muss sich überlegen, wohin er austeilt.
Vieles an dieser Resi mag man autobiografisch lesen: Anke Stelling, Jahrgang 1971, geboren in Ulm, 1991 nach Berlin gezogen, ab 1997 am Leipziger Literaturinstitut studiert, seit 2002 wieder in Berlin, Mutter dreier Kinder, Baugruppenmitglied, Prenzlauer Bergerin, schrieb lange relativ erfolglos, bis sie 2015 beim unabhängigen Berliner Verbrecher Verlag eine Heimat fand. Ihr Roman Bodentiefe Fenster über das Leben in einem selbstverwalteten Gemeinschaftshaus in Prenzlauer Berg wurde 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Schäfchen im Trockenen baut darauf auf. Die Protagonistin ist jedoch eine andere, sie gehört nicht zu den privilegierten, die im Haus wohnen, sondern zu denen, die von außen durch die „bodentiefen Fenster“ blicken.
Die Geschichte geht weit über eine persönliche Nabelschau hinaus, sie ist auch nicht – wie in vielen Kritiken zu lesen war – die literarische Antwort auf die Gentrifizierung in deutschen Großstädten. Stellings Roman ist eine zutiefst sarkastische und tieftraurige Abrechnung mit den Idealen der westdeutschen Nachkriegszeit – alle haben dieselben Chancen, alle machen es besser als ihre Eltern, jeder kann alles werden, Gerhard Schröder, Kind aus ärmlichen Verhältnissen, rüttelt an Stäben und fordert sein Recht auf Teilhabe ein. Mit Erfolg.
Resi steht auf einem Papiercontainer vor dem schicken Neubau ihrer alten Jugendfreunde. Sie schreit nicht, sie rüttelt nirgends. Sie versucht nur, nicht von dem verdammten Container herunterzufallen. Kurz überlegt sie, aus Protest „auf den Rasen zu scheißen“, verwirft die Idee aber, will nicht, dass ihre Exkremente „als willkommener, gottverdammter Dünger“ für den Wohlstand der anderen dienen. So schleicht sie sich weg, ungesehen, ungehört, zurück ins Dunkel.
Aber Resi will doch gehört werden, es ist ihre Überlebensstrategie. Wer vergessen wird, dem kann man einfach die Wohnung kündigen, den kann man vertreiben, nach Marzahn, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihre Suada ist auch eine gegen die Sprachlosigkeit. Resi schreibt an gegen die satte Stille, die aus den Lofts mit Küchenblock und Riesenbalkonen dringt. Gegen die Mittelklasse-Familien und -Paare, die sich über nichts mehr austauschen können, weil alles vermintes Terrain ist: das Geld, der Hausbau, die Beziehung, die Kindererziehung, das soziale Engagement. Wer Teil dieser Gemeinschaft bleiben will, schweigt. Als Resi diese Vereinbarung bricht, erntet sie: Schweigen. Keine wütenden Anrufe, keine Besuche von beleidigten Freunden. Sie wird weggeschwiegen. Alle wissen von der Kündigung, niemand sagt etwas. Es gibt kein Recht auf eine Wohnung in der Innenstadt. Vier Kinder muss man sich auch leisten können.
Resi feuert zurück, indem sie solche Stanzen in einen neuen Kontext setzt. Einmal trägt sie ihrer vierjährigen Tochter den Satz „Bei Geld hört die Freundschaft auf“ vor – wie eine Schauspielerin, einfach, um sich das selbst einmal sagen zu hören. Sie malt sich Drehbücher aus, in denen sie die Wünsche von Redakteurinnen in bizarren Trash verwandelt. Das ist oft komisch, zynisch oder herzzerreißend. Manchmal auch alles zusammen. In ihrer Urteilsbegründung schreibt die Jury, Schäfchen im Trockenen sei „ein scharfkantiger, harscher Roman, der wehtun will und wehtun muss, der protestiert gegen den beständigen Versuch des Besänftigtwerdens, der etwas aufreißt in unserem sicher geglaubten Selbstverständnis und dadurch den Kopf frei macht zum hoffentlich klareren Denken“.
Familienalltag, Fantasien, Albträume, Selbstgespräche
Tatsächlich ertappt man sich beim Lesen dabei, wie man ungeduldig wird, gereizt, wenn die Erzählerin immer wieder am Schorf kratzt und fasziniert und angstvoll zugleich die Wunde anstarrt. Wenn sie einfach nicht damit aufhören kann, zu beobachten, zu berichten, zu kritisieren. Ja, und manchmal denkt man auch: Jetzt lass es doch mal gut sein. Um erschrocken innezuhalten. Und sich ganz fest vorzunehmen, diesen Satz nun ebenfalls aus dem Repertoire zu streichen.
Stellings Betrachtungen sind mal philosophisch, mal banal, selbstmitleidig, messerscharf sezierend, trauernd und alles auskotzend – das verleiht ihrer Protagonistin eine Unmittelbarkeit, die sehr glaubhaft wirkt. Schäfchen im Trockenen ist ein fiebriger Text, Rückblicke auf Resis Kindheit, die Kindheit ihrer Mutter, Szenen aus dem Familienalltag, Fantasien, Albträume, Selbstgespräche, nie abgeschickte Briefe, Drehbuchpassagen werden übergangslos nebeneinandergestellt. Das verleiht dem Roman etwas Collagenhaftes. All diese Schichten verdichten sich im Verlauf der Erzählung zu einem Bild einer völlig isolierten Frau. Entfremdet von der eigenen Familie, den alten Freunden und der eigenen Vergangenheit.
Immer wieder schweift Resi ab in ihrer Rede und setzt neu an. Anders wäre es auch gar nicht möglich, in einer Wohnung mit Mann und vier Kindern. Rückzug bietet ihr nur die Schreibkammer, Resis „Raum für sich“. Kein Schreibtisch steht darin, nur ein Brett, mit Spreizdübeln zwischen die eng stehenden Wände geklemmt. Jeder Anruf aus der Schule, jedes Losrennen zur Kita, jedes Brotdosenpacken und Sportsachen-Zusammensuchen hindert sie wieder am Schreiben, am Weitermachen.
Ja, Schäfchen im Trockenen ist auch ein Roman über die Selbstermächtigung einer Frau; sagen wir es ruhig deutlicher: einer vierfachen Mutter, die gottverdammt noch mal Schriftstellerin sein möchte. Womöglich war das eine Motivation der Jury, genau dieser Schriftstellerin jetzt den Preis zu verleihen, den Stelling ihrer Resi bereits verliehen hat.
Anke Stelling: „Schäfchen im Trockenen“, Verbrecher Verlag, 272 S., 22 Euro.
Abgerufen am 16.06.2019: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-03/anke-stelling-leipziger-buchpreis-gewinnerin-wuerdigung/komplettansicht
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