Man hätte keinen passenderen Ort wählen können, aber selbst mir als Umstädterin war entgangen, wann bzw. dass die kleine, dem Stadthallenkomplex angegliederte Bücherei der Stadt Groß-Umstadt den Namen Wilfried Köbler trägt. Erst beim Warten auf den Bus der evangelischen Kirchengemeinde, der uns am Samstag, dem 15.06.19, hier abholen sollte, sah ich das bescheidene Schild hinter der Scheibe und konnte bei der Begrüßung der Jubiläumsgäste im Eingangsbereich des Hessenparks darauf Bezug nehmen.
„Sie waren Umstädter.“, lautet der Titel des kleinen, reich bebilderten Textbandes, den der unermüdlich und längst mehr als laienhaft um Er- und Aufarbeitung der Umstädter Stadtgeschichte bemühte verstorbene Altbürgermeister Köbler in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Stadtarchivar Georg Brenner 20x herausgegeben hatte.
„Sie waren Umstädter.“ – dieser Titel sollte betonen, dass die seit der Mitte des 18.Jahrhunderts in Groß-Umstadt eingewanderten jüdischen Familien mit ihren Wohnungen und Geschäften nicht nur das Stadtbild unübersehbar geprägt hatten – man denke nur an so markante Niederlassungen wie die repräsentativen Eckgebäude, in denen sich heute das Modehaus Jöckel auf der Carlo-Mierendorf-Straße oder das Café Central am historischen Marktplatz befinden. Nein, die Menschen, die hier wohnten und arbeiteten, lebten und litten, feierten und beteten, zur Welt kamen und starben, waren spätestens seit der Mitte des 19.Jahrhunderts mit der Umstädter Bevölkerung zusammengewachsen. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ hatten sich die französischen Truppen in den Revolutionskriegen nach 1792 auf die Fahnen geschrieben und in ihrem Namen die hohen Mauern der Frankfurter Judengasse eingerissen, aber das war nur die Spitze der Bewegung, die großen Parolen umzusetzen und mit Leben zu erfüllen, das blieb der jeweiligen Bevölkerung in Stadt und Land vorbehalten.
„Assimilation“ nennt die Geschichtswissenschaft diesen Vorgang, mit „Angleichung“ oder „Ähnlich-Machung“ mag man den Fachausdruck übersetzen, aber vielleicht war gerade das nicht nur ein utopisches Unterfangen, sondern im Grunde auch das falsche Ziel. Durch massenhafte Übertritte zum christlichen Glauben, durch Misch-Ehen, Namensänderungen und nicht zuletzt durch Dienst in den Truppen der deutschen Kleinstaaten und später des deutschen Kaiserreichs versuchten weite Teile der jüdischen Bevölkerung, sich den Deutschen „ähnlich zu machen“. Dass alle Vorbehalte des jahrhundertelang tradierten religiösen und wirtschaftlichen Antisemitismus weiterlebten und sich sogar verfestigt hatten, wurde erst sichtbar, als die sozialdarwinistisch-rassisch begründete Ablehnung, Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Mitbürger im NS-Staat begann. Und obwohl „sie … Umstädter (waren)“, sahen die meisten (anderen) Umstädter tatenlos zu oder brüsteten sich sogar damit, dass ihr Umstadt schon 1939 (?) „judenfrei“ gewesen sei. Es gehört zu den großen Rätseln der Geschichte und Abgründen der menschlichen Psyche, dass das über Jahrzehnte alltäglich gelebte Miteinander das nicht hatte verhindern können. Aber das hierarchische Führerstaatsprinzip ließ offenbar auch keinen Raum für „kommunale Aufgaben“ und Sonderwege.
„Integration als kommunale Aufgabe“ heißt nämlich das Konzept, mit dem die Stadt Groß-Umstadt heute ihre seit 2014 zugewiesenen Flüchtlinge und Vertriebenen nicht nur unterzubringen, sondern einzugliedern versucht. Und wohl gemerkt: Integration ist nicht gleich Assimilation!
„Integration“ ist auch einer der satzungsgemäß verbrieften Zwecke der Bürgerstiftung. Und so war es nur konsequent, dass sie am seinerzeit gegründeten „Runden Tisch jüdisches Leben“, den Vertreter der Stadt, der Kirchengemeinde(n), der Pfadfinder, die v.a. die Aktion „Stolpersteine“ in Groß-Umstadt umsetzen ließen, die wenigen noch verbliebenen Gründungsmitglieder des „Vereins zur Bewahrung der Synagoge e.V.“ sowie andere Ehrenamtliche 20xx ins Leben gerufen hatten, Sitz und Stimme erhielt. So wurde dem Vorschlag ihrer Vorsitzenden Dr. Margarete Sauer zugestimmt, den 10.Jahrestag der 2009 wieder eröffneten Umstädter Synagoge im Freilichtmuseum Hessenpark zu nutzen, um vor Ort, Heranwachsende und Zeitzeugen, Jung und Alt, Interessierte und Informierte zusammenzubringen.
Obwohl das Angebot auf einen Samstag fiel, folgten vier OberstufenschülerInnen des Max-Planck-Gymnasiums, Leistungskurs Geschichte, und zwei Schülerinnen der Jahrgangsstufe 9 – alle aus Lerngruppen des Geschichtslehrers N.Jähnig, der in dieser Zeitung und durch Aushang in der Schule beworbenen Einladung. Da das MPG – übrigens als einzige Schule Hessens! – eine seinerzeit von der Leo-Baeck-Stiftung angeregte und geförderte Kooperation mit dem Museum Judengasse und dem Jüdischen Museum in Frankfurt sowie dem Hessenpark eingegangen war, entfielen die Kosten für den Eintritt. Die Transportkosten übernahm die evangelische Kirchengemeinde mit der kostenlosen Überlassung ihres Busses und die Bürgerstiftung die Kosten für die Führung, bei der die beiden im Freilichtmuseum befindlichen Synagogen in den Kreis der fünf christlichen Sakralbauten „integriert“ wurden. Nach der verdienten Mittagspause erarbeiteten sich die SchülerInnen die „Ausstellung zum jüdischen Landleben“. Sie nutzten dabei Materialien, die Margarete Sauer im Rahmen einer Lehrerfortbildung für hessische Geschichtslehrer erstellt hatte, und profitierten natürlich von der intensiven Beratung vor Ort, die Herr Jähnig der interessierten Kleingruppe zuteilwerden lassen konnte. Das Bild zeigt die Gruppe beim Aufbruch vor der Synagoge im Hessenpark.
Und die geheimnisvolle Zeitzeugin? Da staunten die SchülerInnen nicht schlecht, als sie so ganz nebenbei erfuhren, warum denn „ihre“ Sporthalle „Heinrich-Klein-Halle“ heißt und dass Lilo Klein nicht zufällig den gleichen Namen wie der ehemalige Landrat des Altkreises Dieburg und sportpolitische Sprecher im deutschen Bundestag hat. Als Gründungsmitglied des „Vereins zur Bewahrung der Umstädter Synagoge e.V.“ konnte sie authentisch erzählen von jenen bewegten Tagen Ende der 70er Jahre, als sich das Schicksal dieses Gebäudes über Nacht entschied. Und sie selbst habe später die originalen Baupläne nach Neu-Anspach gebracht, als man nach Jahren einer Gruppe von überforderten Berufsschülern den Auftrag zur Rekonstruktion des historischen Gebäudes gab.
Und so steht sie nun da, „unsere“ Synagoge – höher und breiter als das Original am ursprünglichen Standort „In der Fahrt“, als wolle sie unüberschaubar mahnen, dass die „Integration“ dieses Kapitels der Groß-Umstädter Stadtgeschichte im Bewusstsein ihrer BürgerInnen noch lange nicht abgeschlossen ist.
Dr. Margarete Sauer